TRUACOUSTICS: PRÄZISIERUNG DER GEHÖRGANGSAKUSTIK DURCH DIE ANPASSSOFTWARE
Autor: Simon Müller, M. Sc. in Audiology, Audiologisch-wissenschaftlicher Leiter, Widex Hörgeräte GmbH
Ein Grundpfeiler für eine erfolgreiche Hörsystemversorgung ist das Erlangen der akustischen Präzision. Denn diese beeinflusst das Hörvermögen der Anwender, die Klangqualität sowie die Feature-Wirksamkeit und schließlich die Zufriedenheit der Hörgeräteträger. Die Eigenschaften der akustischen Ankopplung wirken hierbei maßgeblich auf den vor dem Trommelfell anliegenden Pegel. So wurden mit dem Ziel, eine natürliche Klangqualität für noch mehr Anpassungen zu erreichen, der Widex-Anpassalgorithmus über TruAcoustics weiterentwickelt und Verstärkungsabgaben präzisiert.
Das Zusammenspiel aus Hörgerät, akustischer Ankopplung und Gehörgangsanatomie bestimmt, mit welcher Schallenergie ein Signal ans Trommelfell gelangt und somit über das Mittelohr in die Cochlea geleitet wird. Ohne die Intensität des Signals von Beginn an zu kontrollieren, könnte eine Unter- oder Überversorgung der Hörminderung den Anpasserfolg bzw. die Wirksamkeit einzelner Features mindern. Um in realen Hörumgebungen eine möglichst natürliche Klangqualität bereitzustellen, setzt Widex bei der Verstärkungsberechnung auf den Erhalt von sehr leisen bis hin zu lauten Eingangssignalen, wobei die Sprachverständlichkeit normallauter Sprache im Vordergrund steht (Semds et al., 2016). Um dem Grundsatz der Pegelzusammensetzung akkurat zu folgen und eine natürliche Klangqualität zu bewahren, bewerten Widex-Hörsysteme seit 2006 für jede Anpassung den akustischen Effekt, der aus dem Zusammenspiel zwischen Otoplastik und individueller Gehörgangsakustik entsteht. Das Ergebnis ist das sogenannte Assessment of In-situ Acoustics (AISA) – ein komplexes Berechnungsmodell, um die gewünschten Verstärkungswerte in Abhängigkeit zur individuellen akustischen Ankopplung samt Hörer zu erreichen Andersen et al., 2010). Hierfür wurde eine Messung des individuell vorliegenden Venteffekts herangezogen, um diese mit den akustischen Modellen der CAMISHA-Datenbank zur Otoplastikfertigung (Computer Aided Manufacturing of Individual Shells for Hearing Aids) zu verknüpfen. Die daraus ermittelten akustischen Eigenschaften der vorliegenden Ankopplung erlauben die Berechnung des effektiv wirksamen Venteffekts und folglich des In-situ-Pegels vor dem Trommelfell. Wichtig bei dieser Erhebung ist das Zusammenspiel aus einwirkendem Direktschall und akustischem Abfluss über die Belüftungsöffnung (Vent). Im Vergleich zu einer Berechnung anhand gemittelter Real-Ear-Unaided-Gain-(REUG)-Werte profitieren Hörsystemträger von einer genaueren Kalkulation des Verstärkungsbedarfs.
Neben individuell gefertigten Otoplastiken stieg über die letzten zehn Jahre weltweit die Anwendung von Schirmchen für Hörsystemanpassungen (Sullivan, 2018). Das AISA-Verfahren wurde zur Implementierung weiterer Ankopplungsvarianten, zusätzlicher Hörer sowie der neuartigen Signalverarbeitung PureSound (Balling et al., 2020) weiterentwickelt. Der daraus entstandene Anpassalgorithmus TruAcoustics präzisiert die komplexen akustischen Zusammenhänge mit dem Ziel einer natürlichen Klangwiedergabe für alle Hörsystemversorgungen (Balling & Townend, 2020). Gleichzeitig unterstützt der weiterentwickelte Algorithmus Hörakustiker in ihrer Auswahl der akustischen Parameter, das heißt der idealen Ankopplung und des geeigneten Hörers. Die Hintergründe zur Entwicklung der in Widex Moment-Hörsystemen seit 2020 verwendeten Technologie und warum die persönlichen Akustikparameter für eine Präzisierung der Anpassung ab der ersten Sitzung relevant sind, erfahren Sie in den nachfolgenden Abschnitten.
Einfluss der Belüftungsöffnung
Beim Tragen eines Hörsystems definiert nicht nur dessen Ausgangsleistung den effektiven Schalldruckpegel am Trommelfell, sondern ebenso, wie diese akustisch angekoppelt ist. So verändert z. B. eine Belüftungsöffnung (Vent) die vom Hörgerät abgegebene Verstärkungsintensität. Die Differenz zwischen Ausgangsschalldruckpegel des Hörsystems und dem bei eingesetzter akustischer Ankopplung am Trommelfell gemessenen Pegel wird dementsprechend als Venteffekt bezeichnet. Obwohl der Durchmesser der Belüftung (1) den größten Einfluss auf den Venteffekt hat (Lybarger, 1985), beeinflussen ihn insgesamt mindestens fünf Parameter. Zusätzlich wirken die Ventlänge (2), mögliche Leckagen zwischen Gehörgangswand und akustischer Ankopplung (3), das Restvolumen des Gehörgangs (4) und die Impedanz des Mittelohrs (5) (Kuk & Nordahn, 2006). Somit reicht es nicht aus, nur die Länge und den Durchmesser des Vents zu kennen, um den Venteffekt zu bestimmen.
Wird eine akustische Ankopplung in den Gehörgang eingebracht, wirken die Belüftung (Vent und mögliche Leckage) zusammen mit dem verbliebenen Gehörgangsvolumen als Helmholz-Resonator (Helmholz, 1860). Wie beim Pusten über einen Flaschenhals schwingt der Resonator des Gehörgangs bei seiner spezifischen Frequenz, wobei diese Frequenz eine zusätzliche Verstärkung erfährt. Auf den Bereich unterhalb der Helmholz-Frequenz wirkt eine frequenzabhängige Dämpfung, während der Frequenzbereich oberhalb der spezifischen Frequenz unberührt bleibt (siehe Abbildung 1) (Andersen et al., 2010). Die grundlegende Charakteristik eines Helmholz-Resonators bleibt gleich und stellt einen „Abfluss“ tiefer Frequenzen unterhalb der Helmholz-Frequenz dar. Die Ausmaße des Resonanzverhaltens variieren jedoch anhand der oben genannten Variablen des Venteffekts (1–5). Siehe Kuk & Nordahn (2006) für eine detaillierte Übersicht der unterschiedlichen Einflüsse oder Abbildung 2 als beispielhafte Darstellung für den Einfluss des Ventdurchmessers.
Während das Vent einerseits einen Abfluss der Hörsystemverstärkung unterhalb der Helmholz-Frequenz mit sich bringt, gelangt auf gleichem Wege unverstärkter Direktschall ans Trommelfell. Es gilt also, beide Einflüsse in ihrer Wechselwirkung über den effektiven Venteffekt zu bestimmen. Die daraus resultierende Kontrolle der In-situ-Verstärkung ist relevant, da sie den Klang eines Hörsystems wie auch seine Wirkungsweise der Signalverarbeitung beeinflusst. Ermöglicht wird dies durch den Rückkopplungstest und das Sensogramm der Anpasssoftware.